Headline: Wir brauchen eine neue Sprache für die Verkehrsberichterstattung

Auto im Kopf
Shuttertock/ URem

Ob „Vierjähriger läuft gegen Auto“ oder „Radfahrerin stürzt in abbiegenden Lkw“:  Die Wortwahl in Polizeimeldungen und Zeitungsartikeln hält die Schuld häufig von Autofahrer:innen fern. Das prägt das Bewusstsein und behindert eine Mobilitätswende.

„Sprache formt ja bekanntlich das Bewusstsein“, sagt eine NDR-Reporterin in einer Reportage über die Sprache, die in Polizeimeldungen bezüglich Verkehrskollisionen genutzt wird. Sie stellt fest, dass die Formulierungen der Polizei die Schuld für Verkehrsgewalt vom Auto und Autofahrer:innen fernhalten. Und Polizeimeldungen werden oft direkt in die journalistische Berichterstattung übernommen. Ihre Darstellung von Ereignissen formt dann unser Bewusstsein und prägt unser Handeln.

Wichtig dabei: Sie prägt so auch unseren Zugang zu Problemen und öffnet oder schließt Handlungsoptionen aus. Beispielsweise wird die Möglichkeit der Schuldzuweisung bzw. Verantwortlichkeit für Kollisionen durch Sprache bestimmt:

„Radfahrerin prallt gegen Autotür und zieht sich schwere Kopfverletzungen zu.“ Diese Schlagzeile betrifft einen Vorfall in der Kreuzberger Wilhelmstraße, bei mir um die Ecke. Ich kenne die Straße, dort wird man als Radfahrerin schnell angehupt, sobald man den sogenannten „Radschutzstreifen“ verlässt. Dass dieser in der Dooring-Zone liegt – also dem Bereich, in den die Türen von abgestellten Autos hineinragen, sobald sie geöffnet werden – wird in der Berichterstattung nicht erwähnt. Im Artikel wird der Vorgang wie folgt beschrieben:

„Die Frau war demnach mit ihrem Fahrrad gegen die Tür eines ordnungsgemäß geparkten Wagens am Fahrbahnrand der Wilhelmstraße gekracht, als der 43-jährige Autofahrer gerade aussteigen wollte. Die Frau, die auf dem Radstreifen unterwegs war, stürzte zu Boden.“

Diese Schilderung weist dem Autofahrer eine passive Rolle zu, obwohl er es ist, der aktiv falsch und gefährlich handelt. Diese Erzählung lässt keinen Raum dafür, die Schuld bei dem Autofahrer zu sehen, der nicht aufgepasst hat, als er seine Autotür öffnete. Noch legt sie die Idee nahe, dass die Infrastruktur und Verkehrsregeln solche Gefahren verursachen. Genau das tun sie aber.

„Kollision“ statt „Unfall“: Neutrale Formulierungen verhindern Vorverurteilungen

In Großbritannien und den USA haben Wissenschaftler:innen viel über Berichterstattung zu Verkehrskollisionen geschrieben und die entscheidende Rolle der Sprache, mit der Kollisionen beschrieben werden, für unsere Wahrnehmung analysiert. Sie haben gezeigt, dass die Sprache eine wesentliche Rolle für unser Urteil darüber spielt, wo die Schuld liegt und was für Maßnahmen helfen könnten, Verkehrsgewalt zu minimieren.

Ich nutze hier bewusst das Wort „Kollision“ anstatt „Unfall“. Denn „Unfall“ (maskulin, kommt von mittelhochdeutsch „unval“) bedeutet: „unvorhersehbares Ereignis (mit Personen- oder Sachschaden), Missgeschick, Unglück“.

Unvorhersehbar? Mit zwischen 3.000 und 4.000 im Straßenverkehr getöteten Menschen jährlich über das letzte Jahrzehnt in Deutschland kann die Rede kaum von „unvorhersehbar“ sein. Das Wort „Unfall“ beschreibt Ereignisse der Verkehrsgewalt so gesehen schlecht.

Auch am IASS Potsdam wird zur sprachlichen Darstellung von Mobilitätsinfrastruktur geforscht. Festgestellt wurde beispielsweise, dass die Narrative, die Kopenhagens Weg zur Fahrradstadt prägten, weniger auf die Umwelt und mehr auf Sicherheit fokussierten. Zudem öffnete die sprachliche Beschreibung von Verkehrsteilnehmenden als „stark“ oder „schwach“ den Weg zur Schaffung von Infrastruktur, die die „schwachen“ Verkehrsteilnehmenden schützt.

Wir bräuchten eine Formulierungshilfe für Journalist:innen, um in diesem Bereich weiterzukommen. Demnächst veröffentlichen britische Forscher:innen  publizistische Leitlinien zur Verkehrsberichterstattung. Darin steht, dass Journalist:innen „bei der Beschreibung von Straßenkollisionen nicht den Begriff ‚Unfall‘ verwenden sollten – ‚Kollision‘ oder ‚Zusammenprall‘ sind zutreffender, insbesondere wenn die Fakten des Vorfalls nicht bekannt sind“ (eigene Übersetzung). Davon könnten wir uns in Deutschland eine Scheibe abschneiden, damit wir nicht mehr in der Zeitung sowas lesen wie „Vierjähriger läuft gegen Auto“ oder „45-jährige Radfahrerin stürzt in abbiegenden Lkw“.

Differenzierende Sprache kann Mobilitätswende voranbringen

Um die Nachhaltigkeitsziele zu erreichen, müssen wir den Mobilitätssektor transformieren und Städte anders gestalten als zurzeit, nämlich weniger an Kraftfahrzeugen orientiert. Nicht nur, damit wir weniger Verkehrsgewalt haben, über die es zu berichten gilt, sondern auch, damit wir nachhaltiger unterwegs sein können und sicher und entspannt zu Fuß gehen und Fahrrad fahren können ... egal, ob wir 4 oder 94 Jahre alt sind. Wir müssen die Mobilitätswende erlebbar machen und der nächsten Generation bessere, sicherere, nachhaltigere und lebenswertere Städte hinterlassen. Bis dahin ist es noch ein langer Weg. Wir – als Gesellschaft – können einander unterstützen, wenn wir die richtige Sprache anwenden.

Leider habe auch ich kein Rezept dafür, wie genau wir über städtische Räume und Mobilität sprechen müssen, damit wir Transformationsprozesse gemeinsam besser durchlaufen. Ich kann aber ein paar Anregungen anbieten. So ist es klar, dass die Sprache in diesem Zusammenhang wichtig ist. Forscher:innen haben aufgezeigt, dass es einen großen Einfluss haben kann, ob wir bspw. über Mobilität oder Verkehr reden, oder gar über Autoverkehr im Gegensatz zu Velomobilität.

Wenn wir gemeinsam anfangen, über Mobilität mit einer differenzierteren Sprache zu reden, dann bahnen wir den Weg zu nachhaltigeren und sicheren Städten, weil wir Raum für neue Gedanken schaffen und viele Menschen anregen, sich an der Gestaltung besserer Städte zu beteiligen.

Ein paarmal habe ich gehört: „Dirk, seitdem ich mich mit dir unterhalte, kann ich die Autoorientierung meiner Umgebung nicht mehr NICHT sehen!“ Leider nur ein paarmal, aber genau dieser Hebel ist es, den wir mit Sprache in den Köpfen umlegen können. Von dann an gibt es kein Zurück. Das bereitet den Weg hin zu besseren Städten.

Was steht uns im Weg? Ich führe hier nur einige wenige Beispiele auf, die ich für besonders wichtig halte. Diese Begriffe tragen dazu bei, dass wir eine Autoorientierung in unseren Köpfen aufrechterhalten:

Unfälle wurde bereits oben analysiert. Dafür ist „rammen“, „zusammenstoßen“ oder ähnliches besser – etwas, was klarmacht, dass wir als Gesellschaft etwas dagegen unternehmen können, etwas, was Handlungsoptionen anbietet und Kollisionen nicht als Naturphänomen darstellt.

Bei dem Begriff „autofrei“, im Sinne von „autofreie Kieze“ oder „autofreie Friedrichstraße“, bin ich zugegebenermaßen etwas gespalten. Autofrei kann provozieren und dazu genutzt werden, eine Idee oder Vision zuzuspitzen, und somit kann es auch dazu führen, dass Aufmerksamkeit auf ein Thema gelenkt wird. Das kann wichtig sein. Aber an und für sich beschreibt der Begriff „autofrei“ die Abwesenheit von etwas, und nicht eine eigene Qualität. Und eigentlich ist es eine bessere Qualität des öffentlichen Raumes, welche wir anstreben. „Belebt“, „offen“, „schön“, „sicher“, „sauber“ sind alles Adjektive, die eher eine Qualität beschreiben. Natürlich impliziert „sicher“ die Abwesenheit von Gefahr, aber es ist schon deshalb besser, weil es eine eigene Qualität positiv beschreibt. „Sicher“ erweckt in mir positivere Assoziationen als „gefahrenfrei“.
Konkreter wird das vielleicht im nächsten Beispiel, einer Alternative zu der „gesperrten Straße“:

„Lass uns die Straße immer sperren, damit wir immer drauf spielen können!“ Das sagte mir enthusiastisch eine 7-Jährige, als ich letzten Sommer eine sogenannte „temporäre Spielstraße“ auf der Kreuzberger Wassertorstraße betreute. Die temporären Spielstraßen waren eine von mehreren Prototypen für den öffentlichen Raum, die wir gemeinsam mit Politik, Verwaltung und Zivilgesellschaft entwickelten, um den Zugang zum öffentlichen Raum angesichts der damals brandneuen Corona-Pandemie sicherzustellen. Die Prototypen hatten wir alle unter dem Titel „Offene Straßen“ entwickelt (so auch die Pop-up-Radwege!).

Und Offene Straßen trifft es auch viel besser! Eine Straße, auf der nur eine Sache vorgesehen ist – nämlich Kraftfahrzeuge – scheint mir eher gesperrt zu sein als eine Straße, auf der eine ganze Bandbreite an Aktivitäten stattfinden kann: von Begegnung oder Sport über Verweilen oder Erledigungen – den Kuchenverzehr will ich an dieser Stelle auch nicht außen vor lassen.

Sperren ist etwas Negatives: niemand will eingesperrt oder ausgesperrt sein. Öffnen hat dagegen positive Konnotationen. Auf eine Eröffnung freut man sich … und in der Pandemiezeit sehnen wir uns alle nach Öffnungen.

Es ist daher wichtig, dass wir das, was wir wollen – auch mit der Wortwahl – richtig benennen. Lassen Sie uns also die Straßen öffnen, anstatt sie zu sperren.

Wenn wir vom „Parkplatz“ sprechen, unterstreichen wir den Gedanken, dass der Platz zum Parken da ist. Aber was ist eigentlich „Parken“? „Parken“ beschreibt eine Aktivität: das Lagern von Privatbesitz, oftmals im öffentlichen Raum. Ein Lager ist ein Ort, wo wir etwas aufheben, damit wir – und in der Regel nicht andere – später davon Gebrauch machen können.

Normalerweise darf ich nicht einfach mein privates Hab und Gut im öffentlichen Raum lagern – vor allem wenn ich den Anspruch habe, dass es mein Hab und Gut bleibt. Die so ziemlich einzige Ausnahme sind Fahrzeuge. Bei diesen privaten Gegenständen ist es normal geworden, sie im öffentlichen Raum zu lagern. Es wurde sogar ein Wort dafür erfunden, das dieses Phänomen als harmlos und das Normalste überhaupt erscheinen lässt: „Parken.“ Und um der hohen Nachfrage an gratis Lagermöglichkeiten nachzukommen, haben Kommunen – vor allem die Straßenämter – es sich zur Hauptaufgabe gemacht, diese Flächen für das Lagern von Privatautos herzustellen und zu unterhalten. Zu Kosten von 1.500-5.000€ für die Errichtung eines sogenannten Parkplatzes und bis zu 300€ jährlich für die Instandhaltung.

Sie können es selber ausprobieren: Schreiben Sie einen kurzen Text, 4-5 Sätze reichen, in der Sie Ihre eigene oder eine gängige Stadtstraße beschreiben. Das wird schwer, ohne geparkte Autos darin zu haben. Dann ersetzen Sie das Wort „Parken/Parkplatz“ usw. durch „Fläche, auf der private Fahrzeuge im öffentlichen Raum nahezu gratis gelagert werden“. Es wird absurd klingen, weil es absurd ist. Und mit dem Wort „Parken“ verdecken wir die Absurdität. Das hindert uns daran, das Phänomen in Frage zu stellen.
Mein Vorschlag ist also, dass wir bei der Benennung einer Fläche für das Abstellen von Privatbesitz einen Begriff nehmen, der besser dazu passt: eine Autolagerfläche. „Autolagerfläche“ mag am Anfang etwas ungewohnt und holprig erscheinen, aber so ist es bei neuen Begriffen. Auch das müssen wir sicherlich ein paarmal üben.

Lassen Sie uns versuchen, die Sprache zu nutzen. Denn wir brauchen andere Städte. Dafür braucht es ein anderes Bewusstsein. Und das Bewusstsein wird ja bekanntlich durch Sprache geformt.

Dieser Blogpost wurde als Vortrag auf der Konferenz KonRad21 am 17. April 2021 gehalten und für den IASS-Blog leicht adaptiert.